URL: www.caritas-chemnitz.de/pressemitteilungen/dort-versteht-man-mich/1937086
Stand: 19.01.2015

Pressemitteilung

Zusmarshausen

"Dort versteht man mich"

Tagesstätte:  "Hierher kann jeder kommen, egal, wie es ihm geht."

 

Zusmarshausen, 15.04.2021 (pca). Sie eine attraktive, sehr gut gepflegte Frau mittleren Alters, klar und eindeutig in ihren Worten und mit klaren Zielen vor Augen. Er ist ein paar Jahre älter. In Bayern sagt man über Menschen wie ihn "ein gestandenes Mannsbild". Ein Arbeitstier, hoch engagiert in seinem Beruf, dem man dank seines Fachwissens in seinem Bereich nichts vormachen kann. Die Frau und der Mann  haben etwas gemeinsam. Sie sind chronisch krank. Und doch sieht man es nicht. Wenn sie über ihre Krankheit sprechen, hören andere vielleicht zu, verstehen aber nicht, was mit ihnen los ist. Sie können es auch nicht nachempfinden, auch weil sie äußerlich so fit erscheinen. Die beiden sind psychisch krank. Beide besuchen regelmäßig die Tagesstätte der Caritas in Zusmarshausen. Der Grund: "Dort versteht man mich. Dort muss ich mich nicht verstellen."

Depressionen, schizophrene Persönlichkeitsstörungen, manisch-depressive Verhaltensweisen, suizidale Gedanken - für viele in der Gesellschaft sind das heute keine Fremdwörter mehr. "Gott sei Dank", meint Susanne Grüßhaber. Sie leitet derzeit kommissarisch die Tagesstätte und ist beim Diözesan-Caritasverband für die Sozialpsychiatrischen Dienste zuständig. Aber sie weiß auch, dass das Kennen von Fremdwörtern und Beschreibungen noch lange kein Verstehen bedeutet.

Was verstehen helfe, sei das, was sie "miteinander reden" nennt. "D.h. man hört nicht auf die gesprochenen Wörter, sondern wie sie gesprochen werden, man ‚hört‘ und fühlt sich ein, wie die andere oder der andere sich gerade fühlt. Und man lässt sie und ihn wissen, dass man sie und ihn ernst nimmt und ihnen glaubt." Grüßhaber gesteht: "Das ist nicht einfach, auch weil sich solch eine Gesprächssituation nicht spontan ergibt. Aber es lohnt sich, weil es unsere Augen, unsere Ohren und unser Herz öffnet."

Katharina L., die Dame mittleren Alters, versucht immer wieder dieses Verstehen zu wecken, auch wenn es Kraft kostet, weil es sie an ihren langen Weg der Erkrankung erinnert. Da sitzt eine lebensmutige attraktive schlanke Frau und man kann sich gut vorstellen, wie aktiv und energiegeladen sie als junge Frau war. Leider nur "war". Ihr Leben änderte sich schlagartig mit einem kieferchirurgischen Eingriff. Ein Gesichtsnerv wurde dabei verletzt. Äußerlich sah man nichts. Doch fortan hatte sie Schmerzen im Gesicht. Jede Sekunde, ohne Unterlass, spürte sie diesen Schmerz. Einen Schmerz, den sie aktuell auf der Schmerzskala von eins bis zehn auf fünf einstuft. Lange Zeit lag er bei zehn.

Es gab keine Hilfe, und es gibt sie bis heute nicht. Kein Medikament, keine Operation, die etwas ändern könnte. Katharina L., deren wirklicher Name anders lautet, ließ sich dennoch nicht gehen. Sie stürzte sich in ihre Arbeit im Büro. War sie zuhause erweckte sie den Eindruck eines Putzwahns. Mit Fleiß, Disziplin und einem Eifer, der ihr über die Jahre mehr und mehr Kraft bis zur innerlichen Erschöpfung kostete, wollte sie ihren Schmerz verdrängen.

Doch es gelang nicht. Niemand glaubte ihr. Sie verzweifelte, weil sie zunehmend den Eindruck hatte, die anderen würden sie nicht verstehen. "Erst als ich innerlich tot war, in Depressionen verfiel, Gedanken an einen Selbstmord hatte, damit endlich die Schmerzen vorüber seien, stieg ich aus diesem Leben aus." Es folgten psychologische Therapien, Aufenthalte im Bezirkskrankenhaus und in psychosomatischen Kliniken. Dort erst fand sie eine Erklärung für ihre Schmerzen im Gesicht. "Ja, das, was Sie haben, gibt es. Sie armer Mensch. Das sind atypische Gesichtsschmerzen", erklärte man ihr dort. "Ich bin nicht verrückt, ich habe echte Schmerzen." Das zu wissen, war Erleichterung. Doch die Folgen ihres jahrelangen Leidens und ihrer Überforderungen hatten tiefe Spuren einer depressiven Erkrankung hinterlassen. Sie war nicht mehr arbeitsfähig. Sie wurde frühverrentet. Die Tagesstätte der Caritas in Zusmarshausen lernte sie erst vor zwei Jahren kennen. Sie ist dankbar dafür. Hier erfährt sie nämlich das, was sie über die lange Zeit jeden Tag vermisst hatte. "Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Und es ist absolut okay hier, wenn man nicht so gut drauf ist."

Genau das ist es, was auch Anton Z. hier gut tut. Auch sein Name ist verändert. Er schätzt es sehr, dass die Mitarbeiterinnen der Tagesstätte ein feines Gespür dafür haben, wie er "gerade so drauf sei". Sie drängen sich nicht auf, hören einfach zu und sind da, wenn sich ein Gespräch darüber eröffnet, worin es gerade bei ihm "hakt". Und dann gehen seine Gedanken dazu über, wo es bei ihm eben nicht hake, worin seine Stärken sind.

Auch bei Anton Z. mag man es nicht glauben, dass er, dieses "gestandene Mannsbild" im Kreis von ebenfalls psychisch erkrankten Menschen sitzt und innerlich so drauf ist, dass er gar nichts zustande bringt. Das Gespräch, das er eröffnet, ist kein Reden über sich und wie schlecht es ihm geht. Er fragt direkt hinaus. "Was wollen sie wissen?"

Seinem Gegenüber wird klar, dass er das eigentlich nicht so richtig weiß, was er wissen will. Anton Z. weiß das auch. Er fordert aber mit seiner Frage das ein, was er für alle psychisch Kranke sich wünscht. "ich erzähle Euch alles. Aber hört zu, lernt uns verstehen!"

Anton Z. ist manisch-depressiv. Aufschwung und anhaltende Höhenfluge schlagen um in einen Absturz. Wer keinen Mittelweg findet, tut sich nur noch mehr weh. Anton Z. entstammt einer leistungsorientierten Familie. "Nach außen schien alles perfekt zu sein." Sein Leben verlief auch gut. Schule, Ausbildung, Beruf - da gab es keinen Ab- oder Einbruch. An seiner Arbeitsstelle wusste man, "der Mann reibt sich eher selber auf, als dass er die Firma hängen lässt." "Ich habe mich rein gesteigert und mich immer mehr reingehangen. Ich hatte nur die Firma im Kopf. Zuhause in der Familie war ich nur grantig, unzufrieden, ungerecht."

Dann kam der Zusammenbruch. Ein Zusammenbruch, den er sich nicht selbst eingestehen wollte. Seine Frau war klüger. Sie hatte sich bei einem sozialpsychiatrischen Dienst beraten lassen. Sie wusste, dass etwas mit ihrem "Anton" nicht stimmt. Er ist froh, dass er dann auf sie gehört hatte. "Vor ihr kann ich mich nicht verbergen. Auf sie höre ich."

Grüßhaber, die beiden Mitarbeiterinnen in der Tagesstätte Verena Mench und Kristin Halbauer sind froh darüber. Anton Z. hatte nämlich an einen endgültigen, nicht mehr zu verändernden Lebensschritt gedacht. Fortan begleiteten ihn mehrere Krankenhausaufenthalte im Bezirkskrankenhaus, Gespräche mit seiner Psychologin und das wachsame Auge seiner Frau. Anton Z., dieses Arbeitstier, der durch und durch ein Leistungsmensch ist, ein kräftiger Mann ist, lernt immer wieder neu, nicht den Punkt wieder aufkommen zu lassen, an dem er zusammenbricht, wenn er "heiß läuft", wie man bei einem Motor sagen würde, und dann auf einmal so "schlaff" und innerlich in Tiefen heruntergezogen, die niemand verstehen kann, der dies nicht selbst in seiner Seele gespürt hat. "Gott sei Dank spürt das meine Frau meist schneller als ich, wenn es wieder soweit ist."

Kristin Halbauer, Ergotherapeutin, und Verena Mench, Heilerziehungspflegehelferin, die beiden Mitarbeiterinnen in der Tagesstätte, wissen um ihre Grenzen. Sie wollen einfach da sein, wenn sie jemand braucht zu einem Gespräch. "Hierher kann jeder kommen, egal, wie es ihm geht. Man kann gut drauf sein, und man kann einfach schweigen. Sie können basteln, einfach nur miteinander reden, sie können auch faul sein. Wir verstehen uns nicht als Aufsichtspersonal." Was ihnen und ihrer Leitung Grüßhaber wichtig ist, dass die Tagesstätte ein Ort ist, an dem sie voraussetzungslos so sein können, wie sie nun mal sind. "Das tut uns einfach gut. Wir werden hier verstanden", so Katharina L. und Anton Z.

 

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