Unterschiedliche Solidaritätsformen sind unterschiedlichen Gefährdungen oder Problemen ausgesetzt. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Potenzialen der freiwilligen Solidarität. Bei großen Notlagen oder zur Absicherung von Lebensrisiken wird außerdem freiwillige Solidarität in vielen Fällen allein schon von der Quantität ihrer Ressourcen her nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Die hohe Mobilität in modernen Gesellschaften kann dazu führen, dass gewachsene Solidargemeinschaften brüchig werden. Es eröffnen sich aber auch Chancen für neue Formen der Solidarität. Denken wir nur an neue Kommunikationsmittel oder die elektronischen Netzwerke. Die sozialstaatlich organisierte Solidarität beruht auf der Einsicht, dass Notlagen und Risiken in der Gesellschaft nicht allein in einem persönlichen Bezugsrahmen oder nur durch freiwillige Solidarität bewältigt werden können. Die Akzeptanz der damit verbundenen Rechtspflichten setzt ein solidarisches Ethos voraus, das immer neu der Begründung und Pflege bedarf. Auf zwei Probleme sozialstaatlich organisierter Solidarität sei hingewiesen.
Zu den aus dem System organisierter Solidarität selbst herrührenden Gefährdungen gehört die unvermeidbare Komplexität und Anonymität organisierter Sozialsysteme.Die Anonymität der Systeme bietet in mancherlei Hinsicht Vorteile, z.B. entlastet sie von Verpflichtungen, die häufig mit freiwilliger Solidarität verbunden sind, und stellt Hilfe ohne Ansehen der Person dauerhaft zur Verfügung. Aber sie hat auch gravierende Nachteile.
Zum Funktionieren der Solidarsysteme trägt der Einzelne durch seine Beiträge und Steuern bei. In diesem anonymen System kennt er die Empfänger der Sozialleistungen nicht. Wenn der Eindruck entsteht oder von interessierter Seite vermittelt wird, dass Sozialleistungen häufig unberechtigt in Anspruch genommen werden oder ihre Lasten ungerecht verteilt sind, kann das zu einer Rechtfertigung dafür führen, die eigene Abgabenlast ungerechtfertigt zu reduzieren (Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit oder ihre Inanspruchnahme) oder selbst Sozialleistungen oder andere staatliche Leistungen zu erschleichen. Beides kann auch dann ausgelöst werden, wenn aufgrund der Anonymität der Systeme das Gefühl vorherrscht, dass man nur "das System" ausnützt, aber keine konkreten Personen. Nicht selten sind es Angehörige höherer Statusgruppen, die ihr Wissen, ihre Erfahrung oder auch ihre größere Möglichkeit zur Einflussnahme ausspielen können, wenn es darum geht, sich nicht gerechtfertigte Vorteile im Sozialstaat zu verschaffen oder sich der Mitbeteiligung an seiner Finanzierung zu entziehen. Ein gerade aktueller Extremfall ist die Verlagerung des Wohnsitzes in Steueroasen, um Steuern und Abgaben zu entgehen.
Wo die Solidarsysteme nicht auf einem solidarischen Ethos basieren und nicht das Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass sie nur dann in Anspruch genommen werden sollen, wenn es tatsächlich nötig ist, gefährden und untergraben sie sich selbst. Der Sinn und das tragende Ethos der Solidarsysteme müssen immer neu plausibel gemacht werden. In einer Kultur, in der die Tendenz besteht, die individuelle Vorteilssuche zur alles beherrschenden Maxime zu erklären, stellt dies eine große Herausforderung dar. Auch diesen Aspekt gilt es zu bedenken, wenn über Tendenzen der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft diskutiert wird.
Eine weitere Gefährdung der Solidarsysteme rührt aus dem Problem, die Generationensolidarität so zu organisieren, dass die Interessen der künftigen, heute am politischen Prozess noch nicht beteiligten Generationen eine gerechte Berücksichtigung finden. Dies zeigt sich in besonderer Deutlichkeit bei der hohen Staatsverschuldung, welche die politischen Handlungsspielräume künftiger Generationen über Gebühr einschränkt; sie verletzt aus sozialethischer Sicht das Prinzip der Nachhaltigkeit. Sie hat gleichzeitig unsere Finanzsysteme verwundbarer gemacht und viele Staaten in eine extreme Abhängigkeit von den Kapitalmärkten gebracht, die den Primat der Politik und damit die Wirksamkeit demokratischer Prozesse in Frage stellen. Die größte politische Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, die Verschuldungsbremse, die heute Teil unserer Verfassung ist, so umzusetzen, dass Solidaritätssysteme nicht Schaden nehmen. Gerade auf die Situation in den Kommunen blicken wir hier mit Sorge. Gelingen wird diese Aufgabe nur, wenn wir den solidarischen Ethos in unserer Gesellschaft erhalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass alle Menschen in Deutschland ihre Potentiale zu einem gelingenden und selbständigen Leben entfalten können. Wenn Befähigung gelingt, trägt dies auch zur Nachhaltigkeit der Sozialsysteme bei und hilft dabei, die Belastung der Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. Hier würde ich mir wünschen, dass häufiger, als dies bisher geschieht, die Leistungs- und Kostenträger und die frei-gemeinnützigen Leistungserbringer in einen produktiven Dialog miteinander kommen. Geht es doch darum, wie wir die Mittel unseres Sozialstaats besser einsetzen können, um durch Prävention und Befähigung soziale Notlagen bereits in ihrer Entstehung zu vermeiden.