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Thema Demenz

Herausforderungen einer sich ausbreitenden Volkskrankheit

Prof. nehen in der Diskussion mit TagungsteilnehmernProf. Dr. Hans Georg Nehen, einer der profiliertesten Demenzforscher, schätzt, dass die Zahl der Demenz-Erkrankten in Deutschland bis 2050 auf drei Millionen ansteigen wird.cpd / Lukas

"Bis zum Jahr 2050 wird, sofern kein Durchbruch in der Prävention oder der Behandlung erzielt wird, die Zahl auf etwa drei Millionen ansteigen. Unsere Gesellschaft wird älter und mit ihr steigt die Zahl der Erkrankungen", erklärt Prof. Dr. Hans Georg Nehen. Der Internist hat in Essen maßgeblich ein Geriatriezentrum aufgebaut und gilt als einer der profiliertesten Demenzforscher. "Das Problem ist, dass man Demenz nicht sehen kann. Zwischen dem Anfang einer Erkrankung und ersten spürbaren Auswirkungen können 30 Jahre vergehen." Ein jüngerer Mensch trägt die Erkrankung also schon in seinen 30-ern vielleicht in sich - ohne davon zu wissen. Und die Wissenschaft ist bis heute nicht in der Lage, diese Krankheit so früh zu erkennen und durch Therapien am Ausbruch zu hindern oder zumindest langfristig wirkungsvoll einzudämmen.

Die Fachtagung in der Katholischen Akademie Schwerte, zu der die Caritas in NRW eingeladen hatte, führte Menschen aus Fach- und Pflegediensten der Caritas zusammen. Der Austausch stand dabei in Workshops im Mittelpunkt. Wie lässt sich Lebensqualität erhalten? Wie kann eine auf Leistung fixierte Gesellschaft demenziell erkrankte Menschen in ihrer Mitte halten? Vor allem, da es "den" Demenzpatienten nicht gibt, wie Professor Nehen am Beispiel Alzheimer die große Problematik auf den Punkt brachte: "Kennst du einen Alzheimer-Patienten, kennst du auch nur einen. Jeder Fall ist für sich einmalig."

Fragen über Fragen ergeben sich aus dieser Feststellung für die Helfer vor Ort. Fragen, die im Rahmen der Konferenz mit zwei Vorträgen eingeführt wurden. So folgte auf den Internisten der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer. Der Professor an der Uni Gießen plädiert seit langer Zeit für eine Umkehrung der Perspektive. "Wir müssen die Welt aus der Perspektive des erkrankten Menschen sehen", so Gronemeyer. Und er scheute sich nicht vor provokanten Thesen: "Demenz erinnert uns, die Nichtkranken, daran, dass das Wissen, das wir im Laufe eines Lebens anhäufen, irgendwann nichts mehr wert ist, weil wir der auf Leistung orientierten Gesellschaft nicht mehr mit unserer Arbeitskraft zur Verfügung stehen." Verdrängen wir Demenz daher aus dem Alltag, schließen sie ein, wollen sie oft nicht wahrhaben?

Reimer Gronemeyer am Rednerpult„Wir müssen die Welt aus der Perspektive des erkrankten Menschen sehen“, fordert der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer.cpd / Lukas

Gronemeyer hat schon vor 20 Jahren in Schriften die Tatsache thematisiert, dass Demenz eine Familienkrankheit ist - es sind die Kinder (vorwiegend Töchter), die an Demenz erkrankte Eltern betreuen und pflegen. Kinder, die dann selbst oft an Depressionen oder Burnout erkranken. Es hat lange gedauert, bis die Worte der Mahner wie Gronemeyer in der Politik angekommen sind. Eine Politik, das wurde im Rahmen der Tagung und dem Austausch von Erfahrungen klar, die noch viel tun muss, um Grundlagen einer breit gefächerten Versorgung zu ermöglichen, wie Markus Leßmann, Leiter der Abteilung Pflege des NRW-Gesundheitsministeriums offen zugibt: "Das Thema ist in aller Munde. Aber ist es auch in den Köpfen?"

Gronemeyer sieht das größte Problem derweil in der Auflösung klassischer Verbände, in denen demenziell erkrankte Menschen bislang aufgefangen wurden. Für Gronemeyer ist das nicht nur die Familie. Auch die Nachbarschaft, Vereine, Kirchen, sogar Gewerkschaften würde er dazu zählen: Verbünde, in denen Menschen ganz direkt anderen Menschen helfen. Was wiederum bedeutet, dass auf die explizit genannten Sozialverbände Caritas und Diakonie noch Herausforderungen zukommen, die heute kaum zu überblicken sind.



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